Screening auf Vorhofflimmern

Das derzeit am lautesten propagierte Einsatzgebiet der SmartEKG-Technologien ist das Screening (=Früherkennungsuntersuchung) auf Vorhofflimmern (VHF). Der Gedanke ist verlockend: In Deutschland leben derzeit wahrscheinlich mehr als 500.000 Menschen mit bislang unbemerktem VHF und damit einem erhöhten Risiko für Schlaganfälle. Dieses Risiko kann bei Vielen durch blutverdünnende Medikamente gesenkt werden. Und weil unbemerktes VHF mittels Smartwatch oder anderen Devices (=Geräten) aufgedeckt werden kann, was 2019 einmal mehr in der Apple Heart Study belegt wurde, könnten die neuen Technologien womöglich Hunderttausenden das Schicksal eines Schlaganfalls ersparen. Aber ist das wirklich so?

Die Crux mit dem Screening

Leider ist das Thema komplexer, als die Einleitung vermuten lässt. Screening, also die Suche nach einer Krankheit bei scheinbar Gesunden, ist nämlich keineswegs zwangsläufig von Vorteil. Wenn eine frühe Diagnose nicht zu besseren Ergebnissen führt als eine späte, bietet sie keinen Vorteil. Es verlängert sich nur die Zeit, in der Betroffene in Sorge leben. Außerdem besteht die Gefahr, Krankheiten bereits in einem Stadium zu behandeln, in dem die Behandlung unnötig oder gar schädlich ist („overdiagnosis“). Viele Screening-Untersuchungen sind deshalb mit Recht umstritten, eine ausführliche und sehr gute Übersicht dazu findet sich auf den Seiten des IQWiG (Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen).

Opportunistisches Screening „old school“

Ein sog. opportunistisches Screening auf VHF mittels Pulskontrolle oder EKG wird in den 2016er-Leitlinien der ESC (European Society of Cardiology) empfohlen (Klasse I-Empfehlung mit mittlerem Evidenzgrad B). Opportunistisch heißt in diesem Zusammenhang, dass die Untersuchung nicht systematisch erfolgt, sondern im Rahmen eines anderweitig begründeten Kontaktes mit dem Gesundheitssystem.

Insofern ist das Screening auf bislang unentdecktes VHF keine Erfindung von Apple, auch wenn manch‘ Medienbericht des letzten Jahres diesen Anschein erweckt. Lange vor der Apple Watch war klar, dass simples Fühlen des Pulses eine sehr gute Sensitivität von rund 94 % zur Erkennung von VHF aufweist. Diese Pulskontrolle können auch Ältere nach kurzer Anleitung zuverlässig selbstständig durchführen, was unlängst u. a. in einer finnischen und einer britischen Studie bewiesen wurde.

Für die Behandlung von Patienten, deren VHF beim opportunistischen Screening entdeckt wurde, existieren klare Empfehlungen auf Grundlage guter Studien. So wissen wir beispielsweise, dass Jüngere (<65 J.) ohne weitere Risikofaktoren von einer längerfristigen Einnahme von Blutverdünnern nicht profitieren, Ältere aber sehr wohl, insbesondere bei weiteren Risikofaktoren.

Systematisches Screening

Systematisches Screening auf VHF wird in den ESC-Leitlinien sehr viel zurückhaltender beurteilt: Nur bei >75-Jährigen oder Menschen mit hohem Schlaganfallrisiko „kann es erwogen werden“ (Klasse IIb-Empfehlung, Evidenzgrad B). Ausnahme sind Patienten nach Hirninfarkt oder TIA, hier wird systematisches Screening ausdrücklich empfohlen (Klasse I-Empfehlung, Evidenzgrad B).

Grund für diese Zurückhaltung ist die Tatsache, dass mit einer Ausweitung des Screenings auf ganze Bevölkerungsgruppen oder längere Zeiträume immer mehr beschwerdefreie Menschen mit nur sehr seltenen oder kurzen VHF-Episoden erfasst werden. In diesem Stadium wurden sie früher nicht entdeckt, sie sind demzufolge in den großen Therapiestudien auch nicht berücksichtigt. Ob unsere jetzigen Behandlungsstrategien für diese Patienten mit -wie man es heute gerne bezeichnet- ausschließlich „subklinischem“ oder „device-detected“ Vorhofflimmern gut und richtig sind, wissen wir deshalb nicht.

Wer sucht, der findet …

… und wer länger sucht, der findet mehr. Das gilt auch für Vorhofflimmern. Aus vielen Untersuchungen bei Risikopatienten wissen wir, dass ein einzelnes EKG bei 0.8-6 % von Ihnen VHF aufdeckt. Ein 24-stündiges Dauer-EKG fördert bei weiteren 2-10 % und ein 72-stündiges LZ-EKG bei nochmals 2 % Vorhofflimmern zu Tage. Ein implantierter Event-Recorder hat in der REVEAL AF study nach einem Jahr bei ca. 27 % und nach drei Jahren bei 40 % dieser Menschen Episoden von mindestens 6 Minuten Dauer aufgezeichnet.

Je intensiver und ausdauernder die Suche, umso größer also die Ausbeute. Im Zuge der verfeinerten Suchstrategien wurde aber auch immer klarer, dass in den feiner gestrickten Fangnetzen auch immer kleinere Fische hängenblieben. Und dass diese kleineren Fische nicht automatisch die gleiche Behandlung erfordern wie die früher überwiegenden dicken Exemplare. Mittlerweile wissen wir, dass Menschen mit geringer Flimmerlast auch ein geringeres Schlaganfallrisiko haben (vgl. hier, hier, hier und hier).

Ein Volk sucht nach Vorhofflimmern

Die immer intensivere Suche nach Vorhofflimmern war lange Zeit „Verschlusssache“, exklusiv betrieben von Kardiologen und einigen wenigen Neurologen. Bis das Jahr 2019 einen unübersehbaren Wandel hin zur „Demokratisierung der Diagnose“ einleitete. Plötzlich gab es eine ganze Vielfalt von Devices und Apps, die den Puls und/oder das EKG registrieren und hinsichtlich VHF analysieren konnten. Diese von mir unter dem Begriff SmartEKG zusammengefassten Technologien, allen voran die Apple Watch, bewiesen ihre Zuverlässigkeit und sollen nach dem Willen der Produzenten die Suche nach Vorhofflimmern zu einem Volkssport oder Jedermann-Grundrecht werden lassen. Aus den USA wird bereits von Tausenden berichtet, die mit den Befunden der heftig beworbenen Gadgets die Praxen von Hausärzten und Kardiologen stürmen. Den Bericht über die Apple Heart Study und die Huawei Studie betitelte die Cardio News der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie im Dezember 2019 mit der Überschrift „Ein Volk sucht nach Vorhofflimmern“.

Vorhofflimmern in verschiedenen Altersgruppen
Häufigkeit von Vorhofflimmern in Abhängigkeit vom Alter
(Zahlen aus Kalifornien 1996/97)
Und damit haben wir zusätzlich zur o. g. Unsicherheit im Umgang mit den „kleinen Fischen“ plötzlich noch ein weiteres Problem. Es gehen nämlich nicht nur diese kleinen Fische in die von Apple & Co ausgelegten Netze, sondern weitaus mehr Menschen, die überhaupt kein Vorhofflimmern haben. Es ist der Fluch der Statistik, genannt das Bayes-Theorem, der selbst ein zuverlässiges Gerät zur Plage werden lassen kann, wenn man es bei gesunden Menschen anwendet. Beispiel Apple Heart Study: von fast 420.000 Studienteilnehmern erhielten 2.161 eine Warnmeldung und nur 153 von ihnen hatten zuvor nicht bekanntes VHF. Die anderen Empfänger von Warnmeldungen hatten sich entweder nicht gemeldet (1.216), hatten kein Vorhofflimmern im EKG (297) oder bereits bekanntes VHF (174) oder andere Gründe, aus der Studie herauszufallen. Mehr als neun von zehn App-Warnungen ergingen demzufolge an Gesunde oder Menschen mit bis zuletzt ungewissem Herzrhythmus.

Aktueller Stand Anfang 2020

Außerhalb von kontrollierten Studien wird von einem Massenscreening auf Vorhofflimmern abgeraten, solange keine belastbaren Daten zum Nutzen einer Blutverdünnung bei Menschen mit ausschließlich „device-detected“ VHF vorliegen. Angesichts der Öffentlichkeitswirkung diverser Smartwatches besonders bei jungen Menschen ist es in meinen Augen allerdings illusorisch, deren Verwendung als Screening-Instrument unterbinden zu wollen. Die dabei erhobenen Befunde müssen aber mit Bedacht interpretiert werden. Auf jeden Fall unschädlich sind Empfehlungen zum Lebensstil, um VHF zu vermeiden: Übergewicht reduzieren, Blutdruck und Blutzucker im Zielbereich halten, Rauchstopp, kein übermäßiger Alkoholgenuss.

Ausblick

Erste Krankenkassen bieten Risikopatienten bereits eine finanzielle Erstattung für die Nutzung digitaler Screeningverfahren auf VHF an (siehe IKK Südwest Preventicus Heartbeats).

Anfang 2020 soll die Rekrutierungsphase für HEARTLINE beginnen. Die von Apple (Hersteller der Apple Watch) und Johnson & Johnson (Mutterkonzern von Janssen Pharmaceutical, die in den USA den Gerinnungshemmer Xarelto vertreiben) gesponsorte Studie mit geplant 180.000 Patienten soll als randomisierte Endpunktstudie klären, ob Massenscreening mit der Pulsuhr tatsächlich die Gesundheit der Betroffenen verbessert.

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