Corona-Faktencheck: mehr Fälle nur wegen mehr Tests?

Seit Wochen haben wir wieder steigende Fallzahlen. Selbsternannte Gegner der vermeintlichen Corona-Diktatur behaupten, dies sei lediglich auf die höhere Anzahl von Corona-Tests zurückzuführen. Und viele Nachplapperer verbreiten das munter, ohne sich lange mit den Fakten abzumühen.

Corona-Tests Deutschland
Corona-Tests in Deutschland (Quelle: RKI-Lagebericht 12.8.20 und eigene Berechnung).

Dabei sind diese Fakten unmissverständlich:

JA, die Anzahl an Corona-Tests ist gestiegen (s. graue Balken in der Grafik). In den letzten fünf Wochen von 505.518 auf 672.171 nach den Zahlen des RKI.

UND NEIN, der Zuwachs an neuen Corona-Fällen (rote Balken) von 3.080 auf 6.909 wöchentlich ist dadurch keineswegs erklärt. Die gelbe Linie „fiktiver Fälle“ zeigt, was mit dem höheren Testaufkommen erklärbar wäre. In der vergangenen Woche wären das 4.033 positive Tests gewesen, tatsächlich aber waren es 6.909.

Corona-Warn-App

Corona-Warn-App Logo
Quelle: RKI
Die Corona-Warn-App der Bundesregierung und des RKI ist seit dem 16. Juni 2020 verfügbar und wurde innerhalb von drei Tagen knapp 10 Mio. mal heruntergeladen. Detaillierte Informationen zur App gibt es auf der Projekt-Homepage und den einschlägigen Seiten der Bundesregierung, des RKI und bei Wikipedia.

Auch wenn der tatsächliche Nutzen der App erst in einigen Monaten bewertet werden kann, ist sie berechtigterweise mit großen Hoffnungen verbunden. Im Idealfall wird sie dazu beitragen, die Infektionszahlen auch in Zeiten zunehmender Kontakte so gering wie möglich zu halten. Gerade uns Beschäftigten im Gesundheitswesen kann sie dabei helfen, besonders gefährdete Menschen zu schützen, indem wir Infektionen frühzeitig erkennen und weitere Übertragungen vermeiden.

Funktion Corona-Warn-App
Quelle: RKI

Die Installation der App ist und bleibt ebenso freiwillig wie deren Nutzung. Die App überträgt keine personenbezogenen Daten und keine Standortdaten. Sowohl die Risikoermittlung als auch die Meldung eines positiven Corona-Befundes an die App müssen vom Nutzer ausdrücklich aktiviert werden.

Was heißt „Niedriges Risiko“

Meldung Niedriges Risiko
Der Status Niedriges Risiko bedeutet nicht, dass das Infektionsrisiko in diesem Moment gering ist. Er sagt lediglich aus, dass in den letzten 14 Tagen kein „riskanter“ Kontakt (grob gesagt: länger als 15 Minuten weniger als 1.5-2.0 m Abstand) mit einem anderen Handy bestand, dessen Besitzerin oder Besitzer positiv getestet wurde und dies auch in der App registriert hat.

Keine Berücksichtigung finden dabei Kontakte mit Menschen ohne Handy oder solchen, die die App nicht nutzen. Ebensowenig solche mit Menschen, die gar nicht getestet wurden, sei es wegen fehlender Symptome oder aus anderen Gründen.

Auch mit grün unterlegtem „Niedrigrisiko-Status“ heißt es also weiterhin wachsam sein: Abstand wahren, Mund-Nasen-Schutz in Risikosituationen, bei einschlägigen Symptomen an Covid-19 denken!

Was bedeutet „Erhöhtes Risiko“

Meldung Erhöhtes Risiko
Quelle: RKI
Die Meldung Erhöhtes Risiko sagt erstmal nur aus, dass ein „epidemiologisch relevanter“ Kontakt zu einer positiv getesteten Person bestanden haben kann. Aus Datenschutzgründen erfährt man nur das Datum dieses Kontaktes, dessen Bewertung somit nicht immer einfach ist. Die App weiß zum Beispiel nicht, ob Mund-Nasen-Schutz, FFP2-Masken oder Trennwände im Einsatz waren. Wie also damit umgehen?

Wer durch die App gewarnt wird, sollte Begegnungen vermeiden und – wenn möglich – nach Hause gehen. Per Telefon sollte dann mit Hausärztin oder Hausarzt oder dem ärztlichen Bereitschaftsdienst (Tel. 116 117) oder dem zuständigen Gesundheitsamt (für den LK Osterholz Tel. 04791 930 2900) über das weitere Vorgehen beraten werden.

Über eine Krankschreibung entscheidet der behandelnde Arzt, über die Anordnung von häuslicher Quarantäne das zuständige Gesundheitsamt jeweils nach eigener Einschätzung. Wer positiv auf Corona getestet wird, kann eine Krankschreibung erhalten und hat Anspruch auf Lohnfortzahlung. Wenn das Gesundheitsamt Quarantäne anordnet, zahlt der Arbeitgeber das Gehalt weiter und wird dafür vom Gesundheitsamt entschädigt.

Corona-Infektionswege in Japan

Furuse Y et al.: Clusters of coronavirus disease in communities, Japan, January–April 2020. Emerg Infect Dis. 2020 Sep.
doi: https://doi.org/10.3201/eid2609.202272

Y. Furuse vom Institute for Frontier Life and Medical Sciences and Hakubi Center for Advanced Research der Uni Kyoto in Japan und Co-Autoren haben 3.184 Fälle Coronavirus-Infektion in Japan analysiert und dabei 61 Cluster identifiziert, die ihren Ausgang in Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen, Restaurants und Bars, Arbeitsstätten und bei Musikveranstaltungen genommen haben. Sie haben dabei 22 mutmaßliche Ursprungspatienten identifiziert, die mehrheitlich 20–39 Jahre alt und zum Zeitpunkt der Virusübertragung prä- oder asymptomatisch waren.

Wer ist Corona-Risikopatient?

Viele Menschen inkl. Ärztinnen und Ärzte sind verunsichert, wer im Hinblick auf das neuen Corona-Virus als Risikopatient zu gelten hat. Die Datenlage dazu ist auch noch im Fluss, sehr hilfreich ist jetzt eine neue Studie aus unserem Nachbarland Dänemark:

heatmap covid-19-mortality
Sterberisiko für Covid-19-Patienten in %
Die für skandinavische Länder typische Vollständigkeit der erhobenen Daten und die mit Deutschland vergleichbaren Begleitumstände machen diese Studie zur bislang besten Grundlage, um das Risiko für einen tödlichen Verlauf einer Corona-Infektion abschätzen zu können. Eine aus den Studiendaten generierte Heatmap zeigt fast auf den ersten Blick recht deutlich, wer im Falle einer Infektion mit einem sehr niedrigen, einem mittleren oder gar einem hohen Sterberisiko rechnen muss.
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Coronavirus in Dänemark

Reilev M et al.: Characteristics and predictors of hospitalization and death in the first 9,519 cases with a positive RT-PCR test for SARS-CoV-2 in Denmark: A nationwide cohort. medRxiv 26.05.2020 (Preprint)
doi: https://doi.org/10.1101/2020.05.24.20111823

mortality heatmap Covid-19
Mortality-Heatmap (Quelle: Reilev et al. s.o.)
Die Autoren haben die Daten aller 228.677 Dänen aufgearbeitet, die sich vom 27.02. bis zum 30.04. einem Test auf SARS-Cov-2 unterzogen haben.

9.519 Fälle waren SARS-CoV-2-PCR-positiv, davon wurden 78 % ambulant und 22 % im Krankenhaus behandelt, 3.2 % auf einer Intensivstation. 5.5 % sind innerhalb von 30 Tagen verstorben. Das Durchschnittsalter der ambulanten Fälle lag bei 45 Jahren (Interquartilbereich IQR 31-57), der Verstorbenen bei 82 Jahren (IQR 75-89). Das Alter war ein starker Prädiktor für tödlichen Ausgang (Odds Ratio OR 14 für 70-79-Jährige, OR 26 für 80-89-Jährige und OR 82 für Fälle über 90 Jahre im Vergleich zu 50-59- Jährige, angepasst an Geschlecht und Anzahl der Komorbiditäten). Auch die Anzahl der Komorbiditäten war stark mit einem tödlichen Ausgang assoziiert (OR 5.2 für Fälle mit ≥4 Komorbiditäten gegenüber keinen Komorbiditäten). 82 % der Verstorbenen hatten mindestens 2 Komorbiditäten. Viele schwerwiegende chronische Erkrankungen erwiesen sich als Prädiktoren für Krankenhausaufnahme (OR 1.3-1.4 für z. B. Schlaganfall, ischämische Herzerkrankung bis 2.2-2.7 für z. B. Herzinsuffizienz, im Krankenhaus diagnostizierte Nierenerkrankung, chronische Lebererkrankung) und Mortalität (OR 1.2-1.3 für z. B. ischämische Herzkrankheit, Hypertonie bis 2.4-2.7 für z. B. schwere psychiatrische Störung, Organtransplantation). Ohne Komorbiditäten war die Mortalität bei bis zu 80-Jährigen relativ niedrig (5% oder weniger).
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Triage vor Schwedens Intensivstationen

Mehrfach schon wurde behauptet, vielen älteren Schweden würde in der Corona-Pandemie intensivmedizinische Behandlung vorenthalten. Anfang Mai haben Christian Baars, Elena Kuch und Oda Lambrecht für den NDR zu diesem Thema recherchiert und von offizieller schwedischer Seite sehr strikte Dementi erhalten.(1) Es gäbe zwar Notfallpläne, Patienten im Alter von über 80 Jahren oder mit bestimmten Vorerkrankungen im Falle einer System-Überlastung nicht intensivmedizinisch zu betreuen, diese seien aber wegen ausreichender Intensivkapazitäten nicht angewandt worden. Der im Vergleich auffallend geringe Anteil älterer Intensivpatienten in Schweden sei möglicherweise auf häufiger geführte Diskussionen über Ethik und Sinnlosigkeit zurückzuführen, die dort vor Einleitung einer Intensivbehandlung geführt würden. Diese Aussage des Vorsitzenden des schwedischen Intensivregisters Johnny Hillgren interessierte mich brennend, standen diese ethischen Fragen doch auch in Deutschland in vermutlich allen unseren Kliniken viele Wochen im Fokus der Diskussion.

Ich wollte es also möglichst genau wissen: Was machen die schwedischen Kollegen auf ihren Intensivstationen anders und auf welcher Grundlage treffen sie ihre Entscheidungen? Ich schaute mir im ersten Schritt die Altersverteilung in der Swedish Intensive Care Registry (SIR) an, die solche Analysen in übrigens weltweit einmaliger Transparenz gestattet. Betrachtet man dort Monat für Monat die Patientenzahlen in den Altersgruppen, kommt man allerdings zu einem ernüchternden Ergebnis:
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Risiko-Score für Critical Illness bei Covid-19

Liang W et al.: Development and Validation of a Clinical Risk Score to Predict the Occurrence of Critical Illness in Hospitalized Patients With COVID-19. JAMA Intern Med. Published online May 12, 2020.
doi:10.1001/jamainternmed.2020.2033

Chinesische Forscher der China Medical Treatment Expert Group for COVID-19 haben anhand der Daten von 1590 Covid-19-Patienten (mittleres Alter 48.9 Jahre, 57.3 % männlich) 10 von insgesamt 72 untersuchten Parametern zum Zeitpunkt der Aufnahme im Krankenhaus als unabhängige prädiktive Faktoren für eine schweren Verlauf (definiert als: Aufnahme auf einer Intensivstation oder künstliche Beatmung oder Tod) identifiziert. Diese unabhängigen Prädiktoren waren:

  1. Abnormes Thorax-Röntgenbild (OR 3.39; 95% CI 2.14-5.38)
  2. Alter (OR 1.03; 95% CI 1.01-1.05)
  3. Hämoptysen (OR 4.53; 95% CI 1.36-15.15)
  4. Dyspnoe (OR 1.88; 95% CI 1.18-3.01)
  5. Bewusstlosigkeit (OR 4.71; 95% CI 1.39-15.98)
  6. Anzahl der Begleiterkrankungen (OR 1.60; 95% CI 1.27-2.00)
  7. Krebs-Anamnese (OR 4.07; 95% CI 1.23-13.43)
  8. Neutrophilen/Lymphozyten-Quotient (OR 1.06; 95% CI 1.02-1.10)
  9. LDH (OR 1.002; 95% CI 1.001-1.004)
  10. Direktes Bilirubin (OR 1.15; 95% CI 1.06-1.24).

Aus diesen Parametern wurde ein Risiko-Score entwickelt, der mit einem frei zugänglichen Online-Rechner (http://118.126.104.170/) ermittelt werden kann. Die Area under the Curve (AUC) als Maß für die Vorhersage-Korrektheit lag sowohl in der Primär- und auch in der Validierungskohorte bei 0.88 (1.0 würde bedeuten, dass alle Vorhersagen korrekt sind).

Online-Rechner
Beispiel-Berechnung mit dem Online-Rechner des Guangzhou Institute of Respiratory Health

Verlorene Lebensjahre durch Covid-19

Hanlon P et al.: COVID-19 – exploring the implications of long-term condition type and extent of multimorbidity on years of life lost: a modelling study [version 1; peer review: awaiting peer review] Wellcome Open Research 2020, 5 :75
doi.org/10.12688/wellcomeopenres.15849.1

Schottische Epidemiologen haben anhand der WHO-Sterbetafeln berechnet, dass die in Italien an Covid-19 Verstorbenen 12 (Frauen) bis 14 (Männer) Lebensjahre verloren haben (YLL = years of life lost). Nach Korrektur um die dokumentierten Vorerkrankungen (LTC = long-term conditions) verbleiben noch 11 Jahre bei Frauen und 13 Jahre bei Männern. Die verlorenen Lebensjahre hängen stark von Art und Anzahl der Vorerkrankungen ab: ≥80-Jährige verloren mehr als 10 Jahre, wenn sie keine Vorerkrankungen hatten, und weniger als 3 Jahre bei mehr als 6 Vorerkrankungen.
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Übertragung des neuen Coronavirus in Shenzhen

Bi Q et. al.: Epidemiology and transmission of COVID-19 in 391 cases and 1286 of their close contacts in Shenzhen, China: a retrospective cohort study. Lancet Infect Dis 2020: online 27.04.2020, korrigiert 05.05.2020.
doi.org/10.1016/ S1473-3099(20)30287-5

Ende April hat eine Forschergruppe von der Johns Hopkins School of Public Health und aus Shenzhen wichtige Daten zur Infektions-Überwachung (Surveillance) veröffentlicht. Dafür haben sie Daten des Shenzhen Center for Disease Control über die ersten dort diagnostizierten 391 Covid-Fälle und deren 1.286 engere Kontaktpersonen ausgewertet. Als engerer Kontakt galten gleicher Haushalt, gemeinsame Mahlzeit oder sozialer Kontakt mit einem Index-Patienten in den zwei Tagen vor Symptombeginn.

Die Studie vergleicht die symptombasierte Surveillance (Corona-Test nur bei Symptomen) mit der kontaktbasierten Surveillance (Corona-Test bei allen engeren Kontakten unabhängig von Symptomen). Symptombasierte Surveillance erfolgte an Flughäfen und Bahnhöfen, bei Krankenhausaufnahme oder durch Haus-zu-Haus-Fiebermessungen. Kontaktbasierte Surveillance betraf alle engeren Kontaktpersonen der Covid-Fälle.
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Heinsberg-Studie

Die „Heinsberg-Studie“ ist raus. Sechs Wochen nach dem dortigen Corona-Ausbruch haben der Bonner Virologe Streeck und sein Forscherteam in Gangelt (Landkreis Heinsberg) 600 zufällig aus dem Melderegister ausgewählte Einwohner angeschrieben und gemeinsam mit allen in deren Haushalt lebenden Personen zu einer Studie eingeladen, um Daten über die Infektionshäufigkeit und die Sterblichkeit von SARS-CoV-2 zu erhalten.

Von den 1.007 Rückmeldungen aus 405 Haushalten konnte der Infektionsstatus bei 919 Personen anhand von Abstrichen und Blutuntersuchungen auf Antikörper ermittelt werden. Die Daten wurden in der Woche vom 30. März bis zum 6. April erhoben und am 4. Mai 2020 vorab veröffentlicht: Streeck H et al.: Infection fatality rate of SARS-CoV-2 infection in a German community with a super-spreading event. In meinen Augen sind die Ergebnisse in mehrerlei Hinsicht sehr interessant:
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